Lisa und Maria genehmigten sich nach dem noblen Dinner in einer Bar einen Absacker. Sie prosten sich vergnügt zu und freuen sich auf, quasi ihre Firma. Auf ihrem Handy sieht sie ein, ca. eine Stunde alte SMS von einer unbekannten Nummer.

„Liebe Lisa, du weißt nicht, wie ich mich auf deine Antwort gefreut habe. Das einfühlsame Gedicht hat mich zum Weinen gebracht. Ich ruf dich morgen an. Es ist Samstag, und daher ein idealer Tag für ein Date, Finn“.

Lisa fängt an zu zittern, aus Freude und Angst vor dem Ungewissen. Vor dem, was sie in Zukunft erwarten würde.

„Fredy?“, fragt Maria.

Lisa hält ihr das Handy vor die Nase. „Lies bitte, ich bekomme weiche Knie.“

Maria macht einen Freudensprung, und alle Anwesenden in der Bar applaudieren, auch wenn niemand weiß, was diesen Luftsprung ausgelöst hat. Sie umarmt ihre Freundin und küsst sie drei, vier Mal.

„Was habe ich gesagt, dranbleiben ist alles. Ich freue mich für dich.“

„Nicht so hastig“, sagt Lisa, „noch ist nichts passiert. Außer, dass ein schwerer Stein von mir fällt. Jetzt wird mein Leben eine Wende nehmen. Ich habe Angst vor diesem Treffen. Kommst du mit Maria?“

„Lisa, ich werde doch nicht zum ersten Date mitkommen. Gerne werde ich ihn kennlernen, wenn es so weit ist. Am Samstag ist es deine Angelegenheit.“

„Du hast ja recht.“

„Tschau, bis morgen.“

Zuhause angekommen ruft Lisa Maria an, und fragt sie, ob sie am Samstagnachmittag für sie Zeit hätte. Diese ist verwundert und sagt: „Aber du hast doch ...“

„Ich möchte noch was loswerden.“

„Ok, treffen wir uns auf der Bank, du weißt, welche ich meine.“

„Um 14:00h?“

Bis Samstag.“

Lisa wälzt sich lange im Bett, bevor sie einschläft. Mitten in der Nacht wacht sie schweißgebadet auf. Ja oder nein? Ja, ich werde ihn nicht enttäuschen. Sie sucht Finns SMS und antwortet.

„Lieber Fremder, ich freue mich auf unser erstes Date. Leider ist der Samstag verplant. Treffen wir uns am Sonntag, am See? Ich würde mich sehr freuen, Lisa.“

Die Antwort kommt prompt.

„Ok, ich werde um 15:00h auf einer Bank, direkt am See warten, Finn.“

Ob ich ihn erkenne? Hat er die Haare geschnitten, sie gefärbt, oder er trägt einen Sonntagsanzug? Lisas Gewirr im Kopf lässt sie weiterhin nicht einschlafen.

 

„Was hast du mir Wichtiges zu sagen?“, fragt Maria, nachdem sich Lisa zu ihr auf die Bank gesetzt hat.

„Seit ich angefangen habe, dir mein früheres Leben zu erzählen, wird der Drang stärker, einem Menschen die ganze Geschichte preiszugeben. Ich bin noch immer hin und her gerissen, ob ich dich damit belästigen soll. Das macht mir Angst.“

„Lisa, das hattest du mir versprochen. Ich soll diejenige sein.“

„Das stimmt, und trotzdem plagen mich Gewissensbisse, dich damit zu belasten. Deine Freundschaft steht über allem. Sie darf auf keinen Fall verloren gehen.“

„Ich verstehe das nicht. Ich habe seit längerer Zeit verstanden, dass du am liebsten alles verdrängst. Du bist dir bewusst, dass dies nicht gelingen wird?“

„Ich weiß. Seit ich realisiert habe, dass sich eine Beziehung anbahnen könnte, fühle ich mich gedrängt. Es ist unvorstellbar, mit diesem Befinden locker auf Finn zuzugehen. Verstehst du das?“

„Sicher, ich war der Meinung, das sei längst klar für dich. Du bist verwirrt, Lisa. Das wird sich legen.“

„Maria, ich habe tiefe Angst, diese Chance zu vergeigen. Dass mein Hirn, wenn ich mit ihm zusammen bin, sagen würde, sei ehrlich, Lisa. Sag es ihm. Bitte schwöre mir eins. Du wirst zu keiner Zeit einen Ton an ihn verlieren, was meine Vergangenheit betrifft. Eines Tages werde ich es schaffen.“

„Lisa meine Liebe, was redest du da. Wir sind die besten Freundinnen. Die halten dicht und plaudern nichts aus, was die andere nicht will.“

„Entschuldige, es war nicht meine Absicht, dir etwas zu unterstellen. Ich wurde im Leben des Öftern enttäuscht.“

„Bitte Lisa, legen wir das bei Seite. Warum bist du hier? Doch nicht, um mir eine Moralpredigt zu halten.“

„Ich bin wirr im Kopf. Du hast recht. Morgen ist mein Date mit Finn. Wie soll ich mich verhalten? Die Verunsicherung ist mein ständiger Begleiter, sobald es sich um eine ernsthafte Beziehung handelt.“

„Wir haben auch eine ernsthafte Beziehung, Lisa. Dabei stelle ich bei dir keinerlei Unsicherheit fest. Du glaubst an Werte, an Liebe, an die Wahrheit. Ja, Liebe gibt es nicht ohne Wahrheit, denn sie kommt aus dem Herzen. Du Lisa bestimmst, wann und wem du es öffnest. Und du weißt genau, ob diese Liebe, tatsächlich ist. Echte Liebe hast du zum Glück von deinen Eltern erfahren, in den wenigen Jahren, die ihr zusammen sein durftet.“

„Danke, Maria. Unsere Liebe gibt mir die nötige Kraft, und den Rückhalt, den ich brauche.“

„Lisa, erzähl weiter, was passierte, nachdem Boris tot am Boden lag. Es wird dir gut tun.“

„Es geschah gegen Abend. Hilde sagte noch, dass wir nicht vor 19:00h zurückkommen müssten.

Da lag der tote Boris. Die Ahle steckte in seiner Brust, aus der Blut floss. Ich war von Sinnen, und rannte weg. Ich hörte meine Schreie, doch niemand reagierte.“

„War das denn so weit weg?“

„Nein, ich denke, dass ich es in mir lauter wahrnahm, als es effektiv war, so waren die Schreie in sich erstickt.“

„Und dann, wohin bist du denn gerannt?“

„Ich bemerkte erst, als die Autoreifen quietschten, dass ich auf eine Straße rannte.“

„Pass doch auf Mädchen.“

„Hörte ich jemand rufen und raste davon. Weg, weit weg. Ein Ziel hatte ich im Moment nicht. Dass ich einen Menschen getötet hatte, wurde mir erst später bewusst. Ich hatte keine Ahnung, was ein toter Mensch ist. Ich durfte meine Eltern nicht sehen. Man sagte mir, dass dies nicht möglich sei, weil sie bereits im Himmel seien.“

„Und bei der Beerdigung?“

„Ich war nicht dabei.“

„Und auf dem Friedhof, da warst du schon, oder nicht?“

„Nicht bis zu diesem Zeitpunkt.“

„Du warst nie auf dem Friedhof, um von deinen Eltern Abschied zu nehmen?“

„Nein, man hat mich davon abgehalten. Und durch die liebevolle Betreuung entfernte sich dieser Wunsch, der nie tatsächlich existierte. Mir war nie bewusst, was ein Friedhof ist. Nicht zu diesem Zeitpunkt.“ Klar gab es in Midlum einen Friedhof. Der war jedoch nicht in meinem Bewusstsein.“

„Und weiter?“

„Nur weg von hier, war das Einzige, was mein Hirn in dieser irren Lage wahrnahm. Ich kam zu einer Bushaltestelle. Die Linie führte nach Harlingen. Die Hand blutig, das Gesicht schweißnass. So stieg ich in den Bus.“

„Das ist niemandem aufgefallen?“

„Doch, eine Frau sagte: Kleines was ist denn mit dir. Du blutest ja.“

„Ist nicht schlimm“, antwortete ich mit zittriger Stimme. „Meine Mama wartet schon auf mich.“

„Das Blut war seit Längerem eingetrocknet.“

„Diese Frau, fuhr sie bis Harlingen?“

„Sie stieg nach kurzer Fahrt aus. Zur gleichen Zeit hörte ich Sirenen von Polizeiautos. Sie rasten an uns vorbei. Hinterher ein Krankenwagen. Er lebt, er lebt, schoss mir durch den Kopf. Ich bekam Angst, dass er mich zurückholen würde.“

„Lisa, du warst wieder auf der Flucht, wie nach dem Unfall deiner Eltern. Warst du die ganze Zeit bei vollem Verstand?“

„Nein, in mir drehte sich alles. Ich konnte nichts einordnen. Weder das Heim, Hilde, oder den Tod von Boris. In mir war eine Stimme, die sagte, weg von hier. Du hast etwas Schlimmes getan. Du musst wieder ins Heim.“

„Und Robin, ist sie dir nicht in den Sinn gekommen?“

„Nein. Ich versteckte mich hinten im Bus. In Harlingen sah ich, wie die Polizei die Straße sperrte, kaum waren wir vorbeigefahren.“

Lisa lehnte sich an Marias Schultern und starrte eine Weile unbewegt zum Himmel. Sie hoffte vergebens, ihre Eltern kämen, um ihr die riesige Last abzunehmen. Die ganze Zeit, in der sie erzählte, liefen Tränen. Je mehr sie von ihrer Geschichte preisgab, desto stärker wurde ihr klar, dass sie weiterhin lange Zeit brauchen wird, um alles zu verarbeiten. Wenn das machbar ist. Dass sie sich nie richtig von den Eltern verabschieden durfte, schnürt ihr noch heute regelmässig den Hals.

„Lisa, bist du ok?“, stößt sie erschrocken aus.

„Ja Maria, ich fühl mich besser.“

„Wo hattest du denn geschlafen?“

„Ich habe mich irgendwo auf eine Bank gelegt. Wo, keine Ahnung. Ich war fest entschlossen, mich erst in mein Heimatdorf durchzuschlagen.“

„Dich hatte niemand bemerkt unterwegs?“

„Nein, ich schaffte es, ohne aufzufallen, das Dorf zu erreichen.“

„Das war gefährlich. Stell dir vor, jemand hätte dich gesehen.“

„Soweit studierte ich nicht. Das war in dem Moment unmöglich. Ich hatte Glück. Maria erinnerst du dich an den Geheimgang?“

„Dieses feuchte Loch?“

„Ja, ich bin bis heute stolz darauf, es bisher niemand verraten zu haben. Dort fand ich wieder mein Versteck.“

„Gibt es dieses Loch heute noch?“

„Nein, es wurde zugeschüttet.“

„Wie lange hattest du dich da versteckt?“

„Wie viele Tage es waren, keine Ahnung, bis heute nicht. Es geschah etwas Merkwürdiges.“

„Erzähl.“

„Das Erlebte wurde im Laufe der Zeit unwirklicher. Es verschwand langsam aus dem Gedächtnis. Was blieb, ist, dass ich mich zu verstecken hatte, und jeden Tag meine Eltern um Hilfe bat. Das war wie ein tägliches Gebet.“

„Und wie hattest du denn die Zeit verbracht?“

„Ich schlief tagsüber und verhielt mich ruhig. Meist in meinem Versteck.“

„Und nachts?“

„Da unternahm ich Verschiedenes. Zum Beispiel suchte ich das Schiff, mein Schiff.“ Lisa lacht kurz. „Auch kam der Hunger, so machte ich mich auf Diebestour. Geld hatte ich keines.“

„Das verstehe ich, wie lange hast du das denn ausgehalten?“

„Verzweiflung kam über mich. Das Geschehene war nicht präsent, und was ich tat, so unwirklich.“

„Das tägliche Gebet zu deinen Eltern, hatte das was in dir bewirkt?“

„Ja, der Wunsch, den Friedhof zu besuchen wurde ständig stärker.“

„Das war nicht möglich. Jemand hätte dich gesehen.“

„Nach dem zweiten Tag lief ich nachts los auf den Friedhof.“

„Du allein, mitten in der Nacht. Hattest du keine Angst?“

„Und wie, doch nur bis ich das Grab der Eltern gefunden hatte.“

„Warum das?“

„So war es schon bei ihrem Unfall. Sobald ich mich Mama oder Papa nah fühlte, war die Angst weg. Ich war mir sicher, dass sie mich beschützen würden.“

„Was hattest du die Zeit auf dem Friedhof gemacht?“

„Ich habe lange Gespräche geführt.“

„Und du warst dir sicher, dass sie dich hören werden?“

„Das spielte keine Rolle. In der zweiten Nacht habe ich ihnen einen Brief hinterlegt, den ich zuvor in meinem Versteck geschrieben hatte. Willst du ihn lesen?“

„Hast du ihn hier“, fragte Maria verdutzt.

„Ja, ich schrieb ihn zweifach. Einen versteckte ich in meinem Versteck.“ Lisa holt das zerknitterte Papier aus der Tasche und gibt es Maria.

„Das ist Holländisch.“

„Entschuldige bitte, hier ist eine deutsche Abschrift. Ich hatte ihn letzte Woche erst übersetzt.“

  Liebe Mama, lieber Papa.

Ich weiß nicht, wo ihr seid. Die einen sagen, dass ihr auf dem Friedhof begraben seid, andere dass ihr im Himmel auf mich aufpassen werdet. Bitte sagt mir, wohin ich gehen soll, um mit euch zu sprechen. Ich bin so allein und vermisse euch jeden Tag. So viel ist passiert und ihr habt mir nie geholfen. Wo seid ihr denn? Ich durfte nie mit auf den Friedhof. Ich wusste nicht recht, was das überhaupt ist. Jetzt bin ich hier und sehe eure Namen in einem Stein. Haben sie euch einfach in die Erde vergraben? Ohne mich vorher zu fragen, ob ich das will. Es gibt viele gute und schlechte Leute. Wie kann ich wissen, wer mit mir gut ist? Der böse Boris hat mir weh getan. Er hat immer gesagt, dass du Pa das auch gerne hättest, was ich machen musste. Das stimmt doch nicht, oder? Du warst nie böse mit mir. Boris ist vielleicht tot. Kommt er auch in den Himmel? Pass auf, dass er mit dir nicht umgeht, wie mit mir. Jetzt suchen sie mich wieder, ohne dass ich richtig weiß, warum. Mama, Papa, helft mir bitte. Ihr seid die Einzigen, denen ich vertraue. Wenn ihr diesen Brief lesen könnt, gebt mir ein Zeichen. Ich weine, wenn ich an euch denke. Könnt ihr nicht einfach vom Himmel heruntersteigen? Wir können wieder zusammen um den Kamin sitzen und spielen. Papa, das Schiff gehört doch jetzt mir, oder? Ich habe euch so sehr lieb. Eure Lisa

 

Maria heult. Das zu hören, übersteigt ihre Kräfte. Die ganze Odyssee, die ihre Freundin durchleben musste, ist auch für sie unvorstellbar.

„Lisa, wie hast du das ausgehalten.“

„Ich weiß es nicht. Sicher ist, dass es falsch war, den Brief zu deponieren.“

„Warum?“

„Jemand hatte ihn gefunden, und der Polizei übergeben. Es war mitten in der Nacht, wie ich orientierungslos aufschreckte. Da waren unbekannte Personen. Ich war am Grab meiner Eltern, um mit ihnen zu plaudern, und bin eingeschlafen. Anscheinend lag ich zusammen gekauert vor dem Grab.“

„Lass mich, ich bleibe bei Mama und Papa.“

„Ich schrie und trat gegen die Person. Er hatte Mühe, mich zu besänftigen. Verschwinde. Du hast hier nichts zu suchen. Wieder nehmen sie mir Mama und Papa weg, schoss es durch den Kopf. Ich geh nicht zurück ins Kinderheim. Ich führte mich auf wie eine Furie. Der Mann, der mich festhielt, war Hauptinspektor Braun.“

„Du brauchst keine Angst zu haben, ich bringe dich nicht dorthin zurück, Lisa.“ Er nahm mich in den Arm und drückte mich.

„Du kennst mich doch“, sagte er.

„Und?“

„Maria, verzeihst du mir, wenn ich hier abbreche.“

„Kein Problem, Lisa. Nur eine Frage, hat sich Fredy nicht mehr bei dir gemeldet?“

„Nein, warum fragst du?“

„Nur so.“

„Danke fürs Zuhören.“

„Gerne, wir sehen uns am Montag. Ruf mich an, wenn was nicht in Ordnung ist.“

 

Lisa hat Mühe einzuschlafen. Sie sinniert über das, was momentan passiert. Warum nimmt ausgerechnet mein Leben diesen Verlauf. Bilder mit ihren Eltern aus glücklichen Tagen helfen ihr dabei, das zu verstehen. Was ist der Mensch wert? Hat er eine Lebensaufgabe? Rückblicke in ihre Kindheit sind es, die ihr in diesen Momenten erleichtern, das Ganze zu verarbeiten.

Sie sieht sich mit Pa im Garten auf der Schaukel. Sie genießt es, mit ihrer Mama einzukaufen, und alle schauen ihr nach. Sie steht, mit weitem Blick übers Meer, mit Papa auf dessen Schiff. Wenn er Reparaturen vornimmt, oder sie hilft Netze flicken. Mama und Papa, wo bleibt ihr, ich hätte euch in den letzten Jahren so gebraucht. Mein Leben wäre so wunderbar anders verlaufen. Vielleicht stünde ich in einer Fischbude in Harlingen, oder würde mit Pa zur See fahren, oder ein Studium in Amsterdam absolvieren. Sie wählt die Nummer von Robin. Sie hilft mir sicher, solch depressive Momente zu überwinden.